Die Weisheit der Hundertjährigen.

Die Weisheit der Hundertjährigen.

 Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben wie die Reise begann ...

 Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben – wie die Reise begann ...

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Es sind die ganz großen Fragen: Wie lebt man ein erfülltes Leben? Was in diesem Leben können wir beeinflussen – und wie? Worauf sind Menschen, die sehr alt werden, am Ende stolz? Und was bedauern sie? Wie prägen Beziehungen unser Leben, welchen Einfluss haben Kultur und Ernährung, Bewegung, die Gene, aber auch Bildung und Wohlstand?

Es sind die ganz großen Fragen: Wie lebt man ein erfülltes Leben? Was in diesem Leben können wir beeinflussen – und wie? Worauf sind Menschen, die sehr alt werden, am Ende stolz? Und was bedauern sie? Wie prägen Beziehungen unser Leben, welchen Einfluss haben Kultur und Ernährung, Bewegung, die Gene, aber auch Bildung und Wohlstand?

Gretel Bergmann-Lambert war eine hochbegabte Fleißige gewesen, die perfekte Athletin also. Aber sie war eine Jüdin in Deutschland – zur auf fatale Weise falschen Zeit. Als ich sie besuchte, in ihrem Häuschen in der Avon Street im New Yorker Bezirk Queens, 2009 war das, ging es uns noch nicht um hohes und höheres Alter; es ging in diesem Gespräch um jene schicksalhaft fürchterlichen Jahre, damals im »Dritten Reich«.

Margaret Bergmann-Lambert blätterte durch alte Fotos und Zeitungstexte, durch jene rote Kladde mit Erinnerungen, die ihr Vater angefertigt hatte; und sie sagte: »Ich war ein Naturtalent.« In Laupheim hatte sie mit Laufen, Werfen, Hochsprung begonnen, ehe sie aus dem Ulmer Fußballverein ausgeschlossen wurde, weil sie Jüdin war. Sie ging nach England, wurde britische Hochsprung-Meisterin und kehrte heim, um 1936 in Berlin Olympiasiegerin zu werden. Aber sie durfte nicht starten, weil sie Jüdin war – und die Deutschen trieben diese Geschichte so weit, dass sie einen Mann ins Damentrikot steckten und für den Hochsprung der Frauen nominierten, was aber dennoch nicht zum Gold für Deutschland führte, sondern lediglich zu einem fulminanten Skandal.

Margaret Bergmann wiederum floh in die USA, wo sie nur zweimal pro Woche trainieren konnte, da ein drittes Training eine weitere U-Bahn-Fahrt durch New York City und weitere fünf Cent bedeutet hätte. Was sie sich nicht leisten konnte. Trotzdem wurde sie dreimal amerikanische Meisterin, 1937 in Hochsprung und Kugelstoßen, 1938 im Hochsprung, sie hieß »The German Mädel«.

Nun war sie 95 Jahre alt und sagte: »Gold, nichts anderes wäre es geworden. Ich wollte den Deutschen und der Welt beweisen, dass Juden nicht diese schrecklichen Menschen waren, nicht so fett, hässlich, widerlich, wie sie uns darstellten. Ich wollte zeigen, dass ein jüdisches Mädchen die Deutschen besiegen kann, vor 100000 Menschen.« Ihr Ehemann Bruno schlief oben, es ging ihm nicht gut, er war 99 Jahre alt. Und sie sagte auch dies: »Ich hätte so glücklich sein können in all den Jahren, wenn ich nicht so gehasst hätte.« Sie meinte die Nazis, vielleicht auch die Deutschen, ganz gewiss nicht ihren Bruno.

Sechs Jahre später redeten wir am Telefon, Gretel Bergmann war 101 Jahre alt, Bruno war 103 geworden, doch inzwischen gestorben. »Mir geht es aber gut«, sagte sie, »nur meine Beine wackeln etwas.« In den Jahren, die folgten, ging es Gretel Bergmann-Lambert dann nicht mehr gut, sie verlor ihre Kraft, ihre Klarheit. Telefonieren mochte sie nicht, besuchen durften wir sie auch nicht mehr, sie wollte einfach nicht, oder unser Wunsch erreichte sie nicht mehr. Am 25. Juli 2017 starb sie in New York, ebenfalls 103 Jahre alt.

»Now it’s good«, hatte Margaret Bergmann-Lambert zum Ende unseres ersten Gesprächs gesagt.

Gretel Bergmann-Lambert war eine hochbegabte Fleißige gewesen, die perfekte Athletin also. Aber sie war eine Jüdin in Deutschland – zur auf fatale Weise falschen Zeit. Als ich sie besuchte, in ihrem Häuschen in der Avon Street im New Yorker Bezirk Queens, 2009 war das, ging es uns noch nicht um hohes und höheres Alter; es ging in diesem Gespräch um jene schicksalhaft fürchterlichen Jahre, damals im »Dritten Reich«.

Margaret Bergmann-Lambert blätterte durch alte Fotos und Zeitungstexte, durch jene rote Kladde mit Erinnerungen, die ihr Vater angefertigt hatte; und sie sagte: »Ich war ein Naturtalent.« In Laupheim hatte sie mit Laufen, Werfen, Hochsprung begonnen, ehe sie aus dem Ulmer Fußballverein ausgeschlossen wurde, weil sie Jüdin war. Sie ging nach England, wurde britische Hochsprung-Meisterin und kehrte heim, um 1936 in Berlin Olympiasiegerin zu werden. Aber sie durfte nicht starten, weil sie Jüdin war – und die Deutschen trieben diese Geschichte so weit, dass sie einen Mann ins Damentrikot steckten und für den Hochsprung der Frauen nominierten, was aber dennoch nicht zum Gold für Deutschland führte, sondern lediglich zu einem fulminanten Skandal.

Margaret Bergmann wiederum floh in die USA, wo sie nur zweimal pro Woche trainieren konnte, da ein drittes Training eine weitere U-Bahn-Fahrt durch New York City und weitere fünf Cent bedeutet hätte. Was sie sich nicht leisten konnte. Trotzdem wurde sie dreimal amerikanische Meisterin, 1937 in Hochsprung und Kugelstoßen, 1938 im Hochsprung, sie hieß »The German Mädel«.

Nun war sie 95 Jahre alt und sagte: »Gold, nichts anderes wäre es geworden. Ich wollte den Deutschen und der Welt beweisen, dass Juden nicht diese schrecklichen Menschen waren, nicht so fett, hässlich, widerlich, wie sie uns darstellten. Ich wollte zeigen, dass ein jüdisches Mädchen die Deutschen besiegen kann, vor 100000 Menschen.« Ihr Ehemann Bruno schlief oben, es ging ihm nicht gut, er war 99 Jahre alt. Und sie sagte auch dies: »Ich hätte so glücklich sein können in all den Jahren, wenn ich nicht so gehasst hätte.« Sie meinte die Nazis, vielleicht auch die Deutschen, ganz gewiss nicht ihren Bruno.

Sechs Jahre später redeten wir am Telefon, Gretel Bergmann war 101 Jahre alt, Bruno war 103 geworden, doch inzwischen gestorben. »Mir geht es aber gut«, sagte sie, »nur meine Beine wackeln etwas.« In den Jahren, die folgten, ging es Gretel Bergmann-Lambert dann nicht mehr gut, sie verlor ihre Kraft, ihre Klarheit. Telefonieren mochte sie nicht, besuchen durften wir sie auch nicht mehr, sie wollte einfach nicht, oder unser Wunsch erreichte sie nicht mehr. Am 25. Juli 2017 starb sie in New York, ebenfalls 103 Jahre alt.

»Now it’s good«, hatte Margaret Bergmann-Lambert zum Ende unseres ersten Gesprächs gesagt.

»Männer«, sagte Alda Philo, 101, auf Mahé, der Hauptinsel der Seychellen, sie spuckte das Wort aus und machte dazu eine Handbewegung, als wollte sie eine Fliege verjagen. »Wir brauchen keine Männer.«

»Männer«, sagte Alda Philo, 101, auf Mahé, der Hauptinsel der Seychellen, sie spuckte das Wort aus und machte dazu eine Handbewegung, als wollte sie eine Fliege verjagen. »Wir brauchen keine Männer.«

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Der erste Hundertjährige, den wir je erlebten, ebenfalls 2009, ebenfalls lange bevor wir die Idee und das Konzept für diese konzentrierte Recherchereise zu den ältesten Alten hatten, betrat eines Abends tapsig und fröhlich die Bühne der New Yorker Carnegie Hall. Das Orchester hatte eines seiner Werke gespielt, und auf einmal erschien er persönlich, Elliott Carter, damals exakte 100 Jahre alt, einer der größten Komponisten des vergangenen und auch des aktuellen Jahrhunderts. Er lachte und winkte und ließ sich vom Publikum bejubeln, für seine Musik natürlich, aber mindestens ebenso sehr für seine ungebändigte Lebenskraft.

Wir staunten. Was für ein beglückender Moment in diesem so ehrwürdigen Saal. So energisch, so vergnügt, so schöpferisch konnte ein Mensch von hundert Jahren sein? Elliott Carter komponierte noch immer, so erfuhren wir, er war sogar fleißiger denn je; rund die Hälfte seines umfangreichen Werks war nach seinem 80. Geburtstag entstanden. Wie machte er das? Was war sein Geheimnis?

Samiha bemühte sich um ein Interview, und so kam es im Herbst 2009, kurz vor seinem 101. Geburtstag, zu einer Begegnung in Carters New Yorker Wohnung. Elliott Carter saß auf einem zerbeulten Sofa im achten Stock eines Backsteinhauses im Greenwich Village; gekauft hatte er diese Wohnung vor über fünf Jahrzehnten für 15.000 Dollar. Er war ein kleiner, weiß-haariger Mann mit wachen blauen Augen und feinen Gesichtszügen. Und Carter, geboren am 11. Dezember 1908 auf der Upper West Side, erzählte von dem stillen New York seiner Kindheit: »Mein Großvater war einer der Ersten, die ein Automobil mit nach Hause brachten. Es war auf eine seltsame Weise wunderschön, mit großen Hupen, und auf der Straße zog es alle Blicke auf sich. Damals gab es in New York nur Pferde und Kutschen. Heute ist diese Stadt ja so vollgestopft mit Automobilen, dass man kaum noch vorwärts kommt.« 

Carters Musik ist virtuos und eigenwillig, entdeckungsvergnügt und darum sprunghaft, manchmal spröde und natürlich modern. Sie missachtet, scheinbar, alle Regeln. Rhythmen überlagern sich, es gibt keinen einheitlichen Takt, weshalb Instrumente in verschiedenen Geschwindigkeiten gegeneinander anspielen oder auch übereinander hinweg, geschwind, bremsend, ein Mosaik aus Klängen, das irritierend und zugleich inspirierend klingt. Carter sagte: »Ich würde sagen, ich bin permanent inspiriert, aber nicht verrückt.«

Carter hatte das Textilgeschäft seines Vaters übernehmen sollen, aber er wollte immer nur Musik machen. Sein Erweckungserlebnis hatte er am 31. Januar 1924, als er in der Carnegie Hall Igor Strawinskys »Sacre du printemps« hörte, gespielt vom Boston Symphony Orchestra; für Carter war es »das Größte, was ich je gehört hatte«. Er ging nach Harvard und studierte englische Literatur, Griechisch, Philosophie und Musik, weil seine Eltern ihn eben dort, in Harvard, studieren sehen wollten; und »weil das Boston Symphony von Koussevitzky dirigiert wurde und viel zeitgenössische Musik spielte«, so erzählte er.

Er rebellierte gegen die konservative Musikausbildung in Harvard, aber er spielte Oboe und Klavier. Nach dem Studium ging er nach Paris, um bei Nadia Boulanger das Komponistenhandwerk zu lernen. Sein Vater stellte enttäuscht die Unterstützung ein, doch mit den 1000 Dollar pro Jahr, die seine Mutter heimlich über den Atlantik schickte, konnte sich Elliott Carter im Paris der frühen dreißiger Jahre durchschlagen.

Der Durchbruch kam spät, mit 42 Jahren, in Arizona. Dort lebte Carter mit seiner Ehefrau, der Bildhauerin Helen Frost-Jones, zusammen, die die eigene Kunst aufgegeben hatte, um seine Kunst zu unterstützen. 2003 starb sie nach schwerer Krankheit; Carter pflegte sie bis zuletzt. »Das ist sie, das ist meine Frau«, sagte er und deutete auf einen filigranen Frauenkopf aus Stein, »sie hat wunderbare Kunstwerke gemacht. Später wurde dann ich ihre Skulptur.«

Samiha fragte ihn, wie es sich anfühle, 101 zu werden? Carter schnaubte. »Die Antwort ist, dass ich nicht die geringste Vorstellung von meinem Alter habe«, sagte er. Es sei vermutlich eine Frage von Glück, aber darüber denke er nicht nach. Dann sagte er: »Ich will einfach nur jedes Stück beenden, das ich anfange.« Am 5. November 2012 starb Elliott Carter, er wurde 103 Jahre alt.

 

»Du musst optimistisch sein. Und interessiert, also neugierig. Mach’ nie etwas, das schlecht für andere Menschen ist, sei ernsthaft. Kämpf ’ nicht mit deinem Ehemann. Versuch’ die Fehler und Schwächen der Männer zu verstehen, man kann ja damit fertig werden.« Claudina, Sardinien

»Du musst optimistisch sein. Und interessiert, also neugierig. Mach’ nie etwas, das schlecht für andere Menschen ist, sei ernsthaft. Kämpf ’ nicht mit deinem Ehemann. Versuch’ die Fehler und Schwächen der Männer zu verstehen, man kann ja damit fertig werden.« Claudina, Sardinien

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Unsere Neugierde war geweckt, die schiere Freude an Gesprächen wie diesem sowieso. Und wie das so ist, wenn man selbst älter wird: Wir dachten ohnehin über die eigenen, alt werdenden Eltern nach, über Samihas Mutter, die Pianistin war, humorvoll, lebensgierig und doch an Parkinson erkrankt. Warum gerade sie? Und was bedeutete diese Diagnose für Dora, für die Familie? Wir sprachen mit unseren Eltern oft und immer öfter über das Alter, über den Tod, über das Schrumpfen von Möglichkeiten, das Schrumpfen von Freundeskreisen, das Schrumpfen der Kraft und doch auch über den Stolz auf all das Geschaffte.

Und wir sprachen über die Trauer über Ausgelassenes, dieses so schmerzhafte Bedauern verpasster Möglichkeiten, die niemals mehr wiederkehren, wir sprachen über jene wenigen, aber so gewichtigen Fehler, die zu stechendem schlechten Gewissen im Alter führen und doch zum Leben dazugehören. Und ja, wir sprachen mit unseren Eltern über die größte aller Fragen: Wie gelingt das Leben?

In New York besuchte Samiha 2010 die Familie Kahn, um im „Spiegel“ über diese drei Geschwister zu schreiben. Drei sehr, sehr alte Geschwister. Helen, damals 108, verachtete Salat, Gemüse, frühes Aufstehen und das ganze verdammte gesunde Leben überhaupt. Sie liebte kurzangebratene Hamburger, Schokolade und Cocktails und ganz besonders das Nachtleben von New York: die Oper, den Broadway, all die Restaurants. Und sie hatte 80 Jahre lang geraucht, warum auch nicht? Helen wurde seit Kindertagen nur »Happy« genannt, »die Glückliche«. Diese Helen Faith Keane Reichert also, geboren am 11. November 1901 auf Manhattans Lower East Side und die Tochter polnisch-jüdischer Einwanderer, war Psychologin, Modeexpertin, einstige Fernsehmoderatorin und emeritierte Professorin für Marketing an der New York University. Happy war zum Fall für die Wissenschaft geworden, da eben auch ihre beiden Brüder uralt waren: Irving, 104, und Peter, 100; und erst im Jahr 2005 war ihre Schwester Lee gestorben, damals 102 Jahre alt.

Wie schaffen es manche Glückspilze, 100 Jahre und länger zu leben – und dabei auch noch geradezu unverschämt gesund und aktiv zu bleiben? Diese Frage interessierte die Wissenschaftler, und diese Frage begann nun uns zu interessieren.

Happys kleiner Bruder Irving ging an Arbeitstagen noch immer in sein Büro im 22. Stock eines Wolkenkratzers an der Madison Avenue. »Kahn Brothers« hieß die Investmentfirma, die er 1978 zusammen mit zwei Söhnen gegründet hatte; der ältere Sohn, heute 72, war allerdings vor fünf Jahren in Rente gegangen. »Ich interessiere mich für viele verschiedene Branchen und Technologien«, sagte Irving, »und ich lese leidenschaftlich gern. Deshalb ist Investor der perfekte Job für mich.« Seit dem Tod seiner Frau vor 14 Jahren arbeite er sogar noch mehr als zuvor. »Ich habe einfach niemanden mehr gefunden, der so interessant wäre wie die Frau, mit der ich 65 Jahre lang das Bett geteilt habe«, sagte er und begann ein wenig zu flirten.

Samiha fragte: Wie wird man glücklich alt? »Erstens muss man sich gesund ernähren, mit viel Gemüse und Salat. Zweitens: viel Zeit an der frischen Luft verbringen. Drittens: nicht trinken, nicht rauchen. Ich trinke höchstens alle drei Monate ein Glas Wein. Viertens, man muss immer in Bewegung bleiben, offen sein, Menschen von überall auf der Welt kennenlernen. Und fünftens viele Interessen haben und Dinge lernen, die man noch nicht kann – das hält jung!« All das sagte Irving Kahn.

»Ich habe ehrlich keine Ahnung, warum ich so alt geworden bin«, erklärte anschließend der Kleine, Peter, nur 100 Jahre alt, das Nesthäkchen also. Er habe »absolut normal« gelebt, nie groß auf seine Gesundheit geachtet und auch nie groß über sein Alter nachgedacht. Aber unter dem Namen Peter Keane machte er im Showbusiness Karriere – als Fotograf und Kameramann in Hollywood. Er war dabei, als Ende der dreißiger Jahre »Vom Winde verweht« gedreht wurde. Und als die junge Judy Garland am Set von »Der Zauberer von Oz« ihr legendäres »Over the Rainbow« sang, sei er wie alle Kollegen am Set in Tränen ausgebrochen, sagte er.

Im September 2011 starb Happy. Peter starb im Februar 2014. Und im Februar 2015 folgte ihnen ihr Bruder Irving; er wurde 109 Jahre alt. Bis zum Ende rief er Samiha in Hamburg an und schlug ihr Reportagen vor, die zufälligerweise allesamt in New York spielten.  

Unsere Neugierde war geweckt, die schiere Freude an Gesprächen wie diesem sowieso. Und wie das so ist, wenn man selbst älter wird: Wir dachten ohnehin über die eigenen, alt werdenden Eltern nach, über Samihas Mutter, die Pianistin war, humorvoll, lebensgierig und doch an Parkinson erkrankt. Warum gerade sie? Und was bedeutete diese Diagnose für Dora, für die Familie? Wir sprachen mit unseren Eltern oft und immer öfter über das Alter, über den Tod, über das Schrumpfen von Möglichkeiten, das Schrumpfen von Freundeskreisen, das Schrumpfen der Kraft und doch auch über den Stolz auf all das Geschaffte.

Und wir sprachen über die Trauer über Ausgelassenes, dieses so schmerzhafte Bedauern verpasster Möglichkeiten, die niemals mehr wiederkehren, wir sprachen über jene wenigen, aber so gewichtigen Fehler, die zu stechendem schlechten Gewissen im Alter führen und doch zum Leben dazugehören. Und ja, wir sprachen mit unseren Eltern über die größte aller Fragen: Wie gelingt das Leben?

In New York besuchte Samiha 2010 die Familie Kahn, um im „Spiegel“ über diese drei Geschwister zu schreiben. Drei sehr, sehr alte Geschwister. Helen, damals 108, verachtete Salat, Gemüse, frühes Aufstehen und das ganze verdammte gesunde Leben überhaupt. Sie liebte kurzangebratene Hamburger, Schokolade und Cocktails und ganz besonders das Nachtleben von New York: die Oper, den Broadway, all die Restaurants. Und sie hatte 80 Jahre lang geraucht, warum auch nicht? Helen wurde seit Kindertagen nur »Happy« genannt, »die Glückliche«. Diese Helen Faith Keane Reichert also, geboren am 11. November 1901 auf Manhattans Lower East Side und die Tochter polnisch-jüdischer Einwanderer, war Psychologin, Modeexpertin, einstige Fernsehmoderatorin und emeritierte Professorin für Marketing an der New York University. Happy war zum Fall für die Wissenschaft geworden, da eben auch ihre beiden Brüder uralt waren: Irving, 104, und Peter, 100; und erst im Jahr 2005 war ihre Schwester Lee gestorben, damals 102 Jahre alt.

Wie schaffen es manche Glückspilze, 100 Jahre und länger zu leben – und dabei auch noch geradezu unverschämt gesund und aktiv zu bleiben? Diese Frage interessierte die Wissenschaftler, und diese Frage begann nun uns zu interessieren.

Happys kleiner Bruder Irving ging an Arbeitstagen noch immer in sein Büro im 22. Stock eines Wolkenkratzers an der Madison Avenue. »Kahn Brothers« hieß die Investmentfirma, die er 1978 zusammen mit zwei Söhnen gegründet hatte; der ältere Sohn, heute 72, war allerdings vor fünf Jahren in Rente gegangen. »Ich interessiere mich für viele verschiedene Branchen und Technologien«, sagte Irving, »und ich lese leidenschaftlich gern. Deshalb ist Investor der perfekte Job für mich.« Seit dem Tod seiner Frau vor 14 Jahren arbeite er sogar noch mehr als zuvor. »Ich habe einfach niemanden mehr gefunden, der so interessant wäre wie die Frau, mit der ich 65 Jahre lang das Bett geteilt habe«, sagte er und begann ein wenig zu flirten.

Samiha fragte: Wie wird man glücklich alt? »Erstens muss man sich gesund ernähren, mit viel Gemüse und Salat. Zweitens: viel Zeit an der frischen Luft verbringen. Drittens: nicht trinken, nicht rauchen. Ich trinke höchstens alle drei Monate ein Glas Wein. Viertens, man muss immer in Bewegung bleiben, offen sein, Menschen von überall auf der Welt kennenlernen. Und fünftens viele Interessen haben und Dinge lernen, die man noch nicht kann – das hält jung!« All das sagte Irving Kahn.

»Ich habe ehrlich keine Ahnung, warum ich so alt geworden bin«, erklärte anschließend der Kleine, Peter, nur 100 Jahre alt, das Nesthäkchen also. Er habe »absolut normal« gelebt, nie groß auf seine Gesundheit geachtet und auch nie groß über sein Alter nachgedacht. Aber unter dem Namen Peter Keane machte er im Showbusiness Karriere – als Fotograf und Kameramann in Hollywood. Er war dabei, als Ende der dreißiger Jahre »Vom Winde verweht« gedreht wurde. Und als die junge Judy Garland am Set von »Der Zauberer von Oz« ihr legendäres »Over the Rainbow« sang, sei er wie alle Kollegen am Set in Tränen ausgebrochen, sagte er.

Im September 2011 starb Happy. Peter starb im Februar 2014. Und im Februar 2015 folgte ihnen ihr Bruder Irving; er wurde 109 Jahre alt. Bis zum Ende rief er Samiha in Hamburg an und schlug ihr Reportagen vor, die zufälligerweise allesamt in New York spielten.  

Pliao Phetphang aus Thailand hat ein poetisches Bild für das Machtgefüge einer funktionierenden Liebe: Der Mann ist die vorderen Beine des Elefanten, die Frau ist die hinteren Beine.

Pliao Phetphang aus Thailand hat ein poetisches Bild für das Machtgefüge einer funktionierenden Liebe: Der Mann ist die vorderen Beine des Elefanten, die Frau ist die hinteren Beine.

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Und damit also begannen wir, uns auf dieses Thema einzulassen, das ganz beiläufig zu unserem eigenen Thema wurde. Wir wurden ja ebenfalls älter.

Das Leben veränderte sich, weil sich Freundschaften veränderten oder sogar endeten (was man in der Jugend meist für unmöglich hält). Auch die Liebe verändert sich mit den Jahren. Berufliche Einschnitte kamen hinzu: diese Trauer, die im Kern schierer Unglaube war, über die Kälte der Lügen scheinbar Vertrauter, das Staunen über die Intrigen durch Menschen, die gestern noch Freunde gewesen waren. Auch das gehört zweifellos zum Leben: Beziehungen, private wie berufliche, die wichtig und stabil schienen, zerbrechen dann doch. Große Fragen stellen sich damit, das ist die logische Konsequenz:

Worum geht es wirklich im Leben? Was wollen wir mit den Jahren und den Möglichkeiten, die wir haben, anfangen? Wir mussten dann, auch das gehört leider dazu, mit dem Tod von Verwandten, dem Tod von Samihas Mutter umgehen – und im Frühjahr 2019 wurden wir Eltern eines Sohnes. Diesen Sohn werden wir in eine westliche Welt entsenden, die lange robust schien, eine Welt der Möglichkeiten – und die in diesen Jahren nun bedroht und brüchig ist, da ihre großen Probleme, der Klimawandel, die Überbevölkerung, die Massenmigration und die Überforderung der Demokratie in den kommenden Jahrzehnten kaum kleiner werden dürften.

Und wieder sind sie da, die größten aller Fragen:
Wie führen wir unser Leben so, dass wir glücklich oder zufrieden sein können?Was in unserem Leben lässt sich überhaupt lenken, was können wir entscheiden; und was ist vorbestimmt, was ist Zufall?
Welche Veränderungen sind die richtigen: Woran sollten wir fest- halten, und was sollten wir loslassen – und wann?
Wie wichtig ist Arbeit, Erfolg – und wie können wir mit Niederlagen umgehen?Welche Wendepunkte zählen wirklich; was in unserem Leben ist am Ende tatsächlich wesentlich?

So haben wir diese Reise angelegt: Sie wird in die Ferne führen, in die ruhmreiche Heimat von Hundertjährigen auf Sardinien, Okinawa oder in Loma Linda, Kalifornien. Und sie wird uns nach China, Thailand, Hawaii, auf afrikanische Inseln, nach Russland oder an die amerikanische Ostküste bringen. Aber natürlich fahren wir auch nach Österreich, in die Schweiz, nach Dänemark und quer durch Deutschland. In die Nähe also. In unsere Städte und Dörfer, zu unseren Familien. Und in die Hauptstadt führt die erste Etappe …

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gibt Autoren-Lesungen
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steht Rede und Antwort auf Panels und in Gesprächsrunden

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moderiert

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Klaus Brinkbäumer folgen auf

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